SPUREN FREI LEGEN
2014–2022
Fotobuch, 186 Seiten, 21x29 cm
Die Idee war einfach: Ich folge immer der Pipeline. Ausgestattet mit einem Notizheft, einer Fotokamera und einem Tonaufnahmegerät, wollte ich gemäß dem Credo von Chantal Ackermann aus ihrem Film Aus dem Osten „alles dokumentieren, was mich berührt.“ Doch eine Ölleitung ist kein Wanderweg. Sie führt nicht dort entlang, wo für gewöhnlich Wege oder Straßen angelegt werden. Sie folgt ihrer eigenen Logik, welche sich aus einer Schnittmenge verschiedenster Kräfte ergibt: Geologie, Topografie, Ölpreis und internationalen Beziehungen.
Das Gehen entlang der Pipeline ist anstrengend. Ständig ist man mit Hindernissen konfrontiert. Zäune, Bäche, Schnellstraßen, Bahntrassen, unwegsame Schneisen, die durch die Wälder führen, Äcker, Industriegebiete, und noch mehr Zäune. Jeder Fleck der Kulturlandschaft ist einem Sinn und Zweck untergeordnet. Die Pipeline tritt für mich in den Hintergrund, das Erleben der Landschaft und die zufälligen Begegnungen mit den Menschen werden wichtiger. Unentwegt bin ich mit den Mühen des Wanderlebens beschäftigt. Für das Fotografieren bleibt nicht viel Zeit. Es geschieht schnell und intuitiv.
Die Adria-Wien-Pipeline (AWP) verläuft zwischen Wien und Triest. Sie verbindet die Raffinerie Schwechat mit dem Ölhafen in der Bucht von Muggia. Der Hafen wird über den Mittelmeerraum von Tankschiffen versorgt. Vierundzwanzig Stunden am Tag wird das schwarze Gold in die Tanklager gepumpt, von wo aus es durch die Transalpine-Pipeline (TAL) quer durch Norditalien und Kärnten bis nach Deutschland befördert wird. Kurz hinter der italienischen Grenze zweigt die AWP in Arnoldstein von der TAL ab und führt hinauf nach Schwechat. 90 Prozent des in Österreich genutzten Erdöls fließen durch diese Leitung. Durchschnittlich mehr als sieben Millionen Tonnen Rohöl im Jahr. Ein Großteil der österreichischen Erdölimporte (Stand 2016) stammt aus Kasachstan, Libyen, Russland und dem Irak. Die Herkunftsländer und der prozentuale Anteil unter ihnen ändern sich jährlich – immer in Abhängigkeit zum Ölpreis, den Förderkapazitäten und nicht zuletzt der politischen Situation in den Herkunftsländern. Waren Nigeria und Syrien vor wenigen Jahren noch wichtige Handelspartner, haben sie gegenwärtig an Bedeutung verloren.
Die erste Pipeline der Geschichte wurde in den USA gebaut. Die Tidewater Pipeline verband eine Ölregion in Pennsylvania mit einem 180 Kilometer entfernten Schienennetz, auf dem das Öl zum Kunden transportiert werden konnte. In ‚Der Preis‘ von Daniel Yergin, für lange Zeit so etwas wie die Öl-Bibel, stellt der Autor die These auf, dass der Bau dieser ersten Long-distance-Pipeline im Jahre 1879 eine ähnliche Ingenieurs-Meisterleistung darstellt wie der Bau der Brooklyn Bridge, welche vier Jahre später fertiggestellt wurde. Standard Oil, die Ölfirma Rockefellers, war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nur im Besitz dutzender Ölquellen, sondern hatte auch weite Teile des Eisenbahn-Transportwesens monopolisiert. Standard Oil verlangte empfindliche Aufpreise von der Konkurrenz, wollte diese ihr Öl mit der Eisenbahn von den Ölfeldern wegschaffen. Die Motivation für den ersten Pipelinebau war gewissermaßen eine waghalsige Unternehmung, um sich dem Transportmonopol des übermächtigen Standard Oil zu entziehen.
Der Bau und die Entwicklung der Rohrkonstruktion war damals wie heute eine technische Herausforderung. Das zähe Öl bedarf eines hohen Drucks, um sich durch die Stahlrohre zu bewegen. Pumpstationen entlang der Leitung garantieren den konstanten Fluss der schwarzen Masse. Sie benötigen viel Energie. Moderne Pipelines wie die AWP werden aus einer Fernsteuer-Zentrale kontrolliert.
Doch nicht nur die technische Funktionsweise der Pipelines hat sich seit dem Bau der ersten Rohrleitung maßgeblich verändert, sondern auch ihre geopolitische und geoökonomische Bedeutung. War die Tidewater noch eine Art Experiment innerhalb des Wettkampfs zweier US-amerikanischer Ölfirmen, kommt heutigen transnationalen Pipelines eine globale Bedeutung zu. Dem Bau von internationalen Leitungen gehen meist jahrelange Verhandlungen und nicht selten diplomatische Konflikte voraus. Länder, die sich auf den Bau einer gemeinsamen Pipeline durch ihre jeweiligen Territorien einigen, schließen eine Allianz im Sinne einer gemeinsamen Energiepolitik.
Der Bau der AWP wurde 1970 fertiggestellt, drei Jahre nachdem die TAL in Betrieb genommen worden war, welche Deutschland und Österreich einen geostrategischen Zugang zum Mittelmeer und damit nach Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten, dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer eröffnet hat. Österreich wurde so zu einem wichtigen Öl-Transitland für Deutschland und Teil einer Energieallianz mit den beiden NATO-Mitgliedstaaten Italien und Deutschland. Während des Kalten Krieges stammte ein nicht unwesentlicher Teil dieses Öls aus der damaligen Sowjetunion, doch wurde es über den Seeweg angeliefert und nicht über Bratislava, welches ab Mitte der Siebzigerjahre an ein osteuropäisches Pipelinenetz angeschlossen wurde. Trotz jahrelanger Bemühungen ist der Eiserne Vorhang hinsichtlich einer möglichen direkten Verbindung zwischen Wien und Bratislava bis heute nicht gefallen.
Befindet man sich jedoch unmittelbar zwischen der Südautobahn A2 und dem steirischen Ort Friedberg, scheint alle Theorie ebenso weit entfernt wie die Ölfelder Aserbaidschans. Nichts von dem geostrategischen Tauziehen ist sichtbar. Einzig die sogenannten Pipelinemarker, die entlang der Leitung in der Landschaft stehen, weisen unmittelbar auf diese hin. Dennoch schreibt sich die Stahlkonstruktion in die Kulturlandschaft ein. Sie wird sichtbar in den Schneisen, die durch Wälder führen; sie wird im Lauf der Jahreszeiten, bei unterschiedlichen Wetterlagen für einen Moment erkennbar. Genauso, wie sie sich kurz in den Geschichten der Menschen zeigt, denen man hier begegnet: ein kurzer Verweis eines LKW-Fahrers auf den unerbittlichen Preisdruck der Konkurrenz aus Osteuropa; ein Landwirt, der das Alter seines Sohnes anhand des Baujahrs der Pipeline berechnet; eine Anekdote von einem betrunkenen Dorfbewohner, der mit dem Auto aus Versehen die steile Trasse entlangfuhr, sich mehrfach überschlug, dann unverletzt ausstieg und lauthals verkündete, den neusten Geschwindigkeitsrekord zwischen den beiden naheliegenden Ortschaften aufgestellt zu haben.