Der Hafen
2017
Text, Postkartenprint: Marokko – Wien je 10,5 x 14,5 cm
Beim Zeichnen der Möwen fällt mir auf wie selten selbige stillhalten. Selbst wenn sie für einen Moment irgendwo landen und die Szenerie beobachten, bleibt ihr Kopf stetig in Bewegung. Er dreht sich in abgehakten Mustern, ebenso unvorhersehbar wie die Flugmanöver einer Fliege. Ein Mann gesellt sich zu mir. Er stellt sich neben mich und schaut mir über die Schulter, während ich auf auf einem der Poller sitze. Er nickt mir lächelnd zu, nachdem ich seine Anwesenheit bemerke und deutet auf meine Zeichnungen.
Er zeigt auf die im Hafenbecken dicht über dem Wasser fliegenden Möwen. Ein Kormoran steigt zufällig genau in jenem Moment an die Wasseroberfläche, während wir beide die Möwen betrachten. Er jagt dort bereits seitdem ich mich hier vor einer knappen Stunde eingefunden habe. Der Herr ist schlank und von mittlerer Statur. Er steht gelassen neben mir und deutet noch einmal auf die Zeichnungen. Eine Aufforderung. Ich blättere rasch ein, zwei Seiten durch. Ich schäme mich. Seit Tagen sitze ich hier, schreibe und zeichne emsig in mein Büchlein hinein und nun fragt mich endlich jemand, was ich da eigentlich mache, und alles, was ich vorzeigen kann, sind ein paar verkrüppelte Möwen.
Ich blättere schnell durch das Büchlein – gerade ausreichend lang, dass man überhaupt etwas erkennt. Er fängt an, ein paar Sätze auf Französisch zu sprechen. Leider muss ich ihm gleich signalisieren, dass ich nur recht wenig von dem Gesagten verstehe. Wie gerne würde ich mich nun mit ihm auf Französisch unterhalten. Er streckt sich, stellt sich an die Kante des Hafenbeckens, wo gerade unterhalb seiner Füße ein Fischerboot vom offenen Meer zurückkommt. Von der Seite gesellen sich weitere Männer zu ihm. Einer tritt nach dem anderen langsam an die Kaimauer heran, bis dort plötzlich – ganz unbemerkt – zehn oder fünfzehn Männer stehen.
Ein ausgesprochen dicker Mann sitzt auf einem der ambossförmigen Poller und ruft etwas zu den beiden Fischern auf dem Boot runter. In der einen Hand eine Zigarette und in der anderen ein kleines schwarzes Handy, welches er an seinen großen Kopf hält. Der schlanke Mann schaut mich kurz an und macht eine nach vorne gerichtete Kopfbewegung. Er unterstreicht diese, indem er noch einmal unauffällig, fast schon etwas verschwörerisch, auf das Boot zeigt. Ich soll aufstehen und mir das Boot anschauen. Die Fischer machen sich schweigend daran, die Außenbordmotoren abzumontieren, während der Fang bereits auf die ebene Fläche neben uns gestellt worden ist. Es stehen einige voll geladene Kisten mit Fisch auf einer Karre, während die Fischer noch im Boot stehen und Arbeitsmaterialien zusammenpacken. „Two days of fishing ... not good“. Ich bin überrascht. Meine neue Bekanntschaft spricht offensichtlich auch ein paar Brocken Englisch.
Das ganze Geschehen weckt die Aufmerksamkeit einiger Möwen. Eigentlich dienen selbige wohl am besten dazu, anzuzeigen in welcher Ecke des Hafens gerade etwas los ist. Ein langgezogenes oder ein kurzes tiefstimmiges „A-U-Ü“ – ein Lockruf. Es findet eine Verdichtung dieses Rufes statt. Dieser erstreckte sich noch wenige Sekunden zuvor über das ganze Hafenareal. Dann eine warnendes „Ag Ag Ag“ von einer Möwe, welche das Geschehen von einem zur Reparatur aufgebahrten Boot betrachtet und nun vor den schnell anhuschenden Fotografen warnt. Kameras werden gezückt. Der dicke Mann mit dem Handy hat sich in der Zwischenzeit ungesehen von dem Geschehen entfernt.
Einige Minuten später haben sich die Fischer, die Möwen und die Touristen bereits wieder auf das Areal verteilt. Ich setze mich wieder auf meinen Poller und sehe zu, wie die Kisten mit dem Fang eine nach der anderen auf Karren in Richtung des Hafeneingangs geschoben werden. Der schlanke Mann kommt langsam auf mich zu. Abermals spricht er mich auf Französisch an. Schnell geraten wir an unsere sprachlichen Grenzen. „Two days of fishing.“ Er fügt dem etwas auf Französisch hinzu. Ich reiche ihm meinen Stift. Er kniet sich kurz hin, zieht mit einer etwas umständlichen Bewegung den Deckel des Stiftes ab, überlegt wohin damit, während er wenige Zentimeter über dem Blatt einige Probestriche zeichnet.
Ein paar Sekunden später steht er auf – noch immer ganz bei seiner Zeichnung – und geht mit meinem Notizbuch und meinem Stift zum nächsten Poller, um sich dort hinzusetzen. Ich bleibe ganz entspannt sitzen und gebe ihm etwas Zeit zum Zeichnen. Einige Minuten später lächelt er mich an und signalisiert mir, dass er fertig ist. Ich komme zu ihm und betrachte die Zeichnung. Ein Fisch. „Roqaine“, spricht er und schaut mich erwartungsvoll an. Ich habe keine Ahnung, was er von mir will. „Poisson?“ „Roqaine.“ Immer wieder wiederholt er das Wort. „Le Roqaine.“ „Le Roqaine.“ Er versucht mir die Zeichnung auf Französisch zu erklären. Schließlich schreibt er das Wort neben die Zeichnung. Vielleicht ein Hai. Eventuell ein Hammerhai.
Ich verlange nach dem Stift und zeichne nun meinerseits einen Hai. Zwei schlecht gezeichnete Fische, die beide eine gewisse Nähe zum Haifisch haben. Das muss reichen. Wir sind uns einig: es geht um Haie. Wir nicken beide erlöst. Er notiert einige Zahlen: 250, 500, 600 Kilogramm. Ich frage Ihn, für wieviel man das Kilo Haifisch-Fleisch verkaufen kann. 50-60 Dirham – ungefähr 5,30 Euro. Sofort geraten wir wieder an die Grenzen unserer sprachlichen Fähigkeiten. Verkaufen die Fischer das Kilo für 60 Dirham an einen Zwischenhändler? Restaurants? Oder gleich auf dem Fischmarkt?
Die Fischer verladen das Equipment in einen zweiten Karren. Ein junger Mann mit einem großen schwarzen Strohhut, welcher eng unter dem Kinn mit einer Kordel gegen den Wind festgebunden ist, nähert sich von der gegenüberliegen Seite des Hafenbeckens. Er steigt über die Boote hinweg und tritt dabei auf die Querbalken, welche die Boote in vier unterschiedliche Fächer aufteilen. Ein Boot nach dem anderen gibt unter dem Gewicht seiner Füße langsam nach und taucht ein wenig tiefer in die Wasseroberfläche. Wie eine Welle geht diese Bewegung von einem zum anderen der Boote über. Ein Wippen, vergleichbar mit einer Spinne, die über ein horizontal gesponnenes Netz hinüber läuft.
Unterdessen zeichnet der schlanke Mann den Umriss Marokkos in meinen grünen Notizblock und benennt von Norden nach Süden alle Küstenstädte. Er spricht sie deutlich und langsam aus, so als müsste ich sie gleich wiederholen. Im Anschluss zeichnet er Spanien im Norden Marokkos ein. Ich betrachte die Meerenge von Gibraltar. Innerhalb Spaniens zeichnet er die Grenze zu Portugal ein. Wiederum nördlich von Portugal zeichnet er etwas anderes. „Italy.“ Ich versuche, ihm höflich zu widersprechen. Er zeigt immer wieder auf Italien und nickt entschlossen. Er trägt eine braun-beige Hose und eine orangen Pulli. Leicht gelocktes schwarzes Haar, mit der ein oder anderen grauen Strähne. Wir lassen das Thema fallen.
Zwei Außenbordmotoren mit jeweils 25 PS. „25 PS plus 25 PS sind 50 PS.“ Einer für den Notfall. Autobatterien, Scheinwerfer für die Nacht. Unterschiedliche Netze mit verschieden großen Maschen. Hakensysteme mit bis zu Zweitausend Haken für Thunfisch oder Hai. Immer drei Boote mit jeweils vier bis fünf Fischern an Bord gehen gemeinsam auf Jagd – zwei bis drei Tage. Sie brauchen vom Hafen aus fast zehn Stunden, bis sie überhaupt am richtigen Ort auf dem Meer angekommen sind: weit draußen, nur Wasser um sie herum, kein Land in Sicht, Winden, die mit einem kleinen benzinbetriebenen Motor die Netze einziehen können. Mindestens eins der drei Boote hat noch einen ca. zwei Meter hohen Mini-Kran an Bord. Er schaut aus wie ein Galgen. Wahrscheinlich ebenfalls für die Netze oder, um größere Haie an Bord zu hieven. Taschenlampen, Sonnenschutz, Benzinkanister, Kochtöpfe. Die Boote sind in drei Bereiche aufgeteilt. Der vordere Teil – die Front – ist die Küche, danach das Fischerequipment und schließlich im Heck des Bootes Motoren, Benzin, Batterien, Sicherheits- und Navigationsequipment.
Wir setzen uns auf ein paar Fischernetze, die hinter der Kaimauer auf dem Betonboden liegen. Die Netzte sind mit Hilfe einiger dünner Plastikschnüre zusammengebunden. Mein Freund steht von einem der Poller auf und winkt mich abermals zu sich rüber, um mir seinen Fischerei-Ausweis zu zeigen. Auf dem Ausweis: eine Schwarz-Weiß Fotografie von einem jungen Mann mit einem langen schmalen Gesicht. Der Ausweis wurde 1984 ausgestellt und enthält dutzende Stempel und Jahreszahlen – jede Saison verzeichnet. Gelbes Papier. Er wartet meine Reaktion ab und schaut mich erwartungsvoll an. Er fragt mich nach einer Zigarette. Wir verabschieden uns.
Hafen, Essaouira, mittags gegen 14 Uhr.